Auslegung der HOAI bei Altverträgen

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Neuigkeiten aus Luxemburg: Das verbindliche Preisrecht der (alten) HOAI gilt offenbar auch zwischen Privaten nicht! Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH liegen vor.

Mit Urteil vom 04.07.2019 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die verbindlichen Mindest- und Höchstsätze der HOAI für europarechtswidrig erklärt (EuGH, Urteil vom 04.07.2019 – Rs. C-377/17). Der EuGH hatte allerdings nicht darüber entschieden, was dies für die sogenannten Altfälle bedeutet. Altfälle sind zum Zeitpunkt der Entscheidung, also am 04.07.2019, schon bestehende und noch bis zum Inkrafttreten der HOAI 2021 am 31.12.2020 abgeschlossene Architekten- und Ingenieurverträge. Es stellte sich nämlich nach diesem Urteil die Frage, ob für diese Fälle die Mindestsätze der HOAI dann weitergelten, wenn ausschließlich private Parteien die Geltung der HOAI (als letztlich ja gültiges Gesetz) für ihren Vertrag vorausgesetzt hatten. Die Folge waren gegensätzliche Entscheidungen bei den nationalen Gerichten in Deutschland. Seit mehr als zwei Jahren herrscht daher eine erhebliche Rechtsunsicherheit, welche letztlich nur durch die Rechtsprechung wieder beseitigt werden kann. Über den Gesamtkomplex wurde auch im DBZ Newsletter bereits mehrfach berichtet.

Der Entscheidung des EuGH lag der folgende, vereinfacht dargestellte Sachverhalt zugrunde: Der Kläger des Ausgangsverfahrens, Betreiber eines Ingenieurbüros und die Beklagte, ein Industrieunternehmen, schlossen 2016 einen Vertrag. Gegenstand des Vertrags war die Erbringung von Ingenieurleistungen durch die Klägerin für ein Bauvorhaben der Beklagten in Berlin. Für die erbrachten Leistungen vereinbarten die Parteien ein Pauschalhonorar in Höhe von 55 025,00 Euro. Die Beklagte zahlte auf Grundlage der Abschlagszahlungen des Klägers einen Bruttogesamtbetrag in Höhe von 55 395,92 Euro. Nach Kündigung des Vertrags über die Erbringung der Ingenieursleis­tungen im Jahr 2017 rechnete der Kläger auf Grund­lage der Mindestsätze gemäß der HOAI seine er­­brachten Leistungen in einer Honorar­schluss­rechnung über einen höheren Betrag ab als den, der von den Parteien vertraglich vereinbart worden war. Danach verklagte der Kläger die Beklagte unter Berücksichtigung der bereits geleisteten Zahlungen und des als Sicherheit einbehaltenen Betrags auf den Restbetrag des geschuldeten Honorars in Höhe von 102 934,59 Euro brutto zuzüglich Zinsen und vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.

Die Gerichte der ersten und zweiten Instanz gaben der Klage weitgehend statt. Der EuGH hatte aber festgestellt, dass Deutschland dadurch gegen seine Pflichten aus der Dienstleistungsrichtlinie verstieße, dass es verbindliche Honorarsätze für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren nach der HOAI beibehalten habe. Die Bestimmungen dieser Richtlinie stünden einer nationalen Regelung entgegen, nach der es verboten sei, in Verträgen mit Architekten oder Ingenieuren Honorare zu vereinbaren, die die Mindestsätze der HOAI unterschreiten.

Vor diesem Hintergrund entschied der für Bau- und Architektenrecht zuständige VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH), der als Revisionsgericht mit dem Klageabweisungsantrag der Beklagten befasst ist, dahingehend, dass er das Verfahren aussetzte und in einem Vorabentscheidungsersuchen dem EuGH die folgenden (vereinfacht dargestellten) Fragen vorlegte:

Kommt die Dienstleistungsrichtlinie im Rahmen eines laufenden Gerichtsverfahrens zwischen Privatpersonen unmittelbar zur Anwendung mit der Folge, dass § 7 HOAI mit der Vorgabe von verbindlichen Mindest- und Höchstsätzen nicht gilt?

Wenn nein, stellt die Regelung verbindlicher Mindestsätze in § 7 HOAI einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) oder gegen sonstige Grundsätze des Unionsrechts dar?

Wenn ja, folgt aus einem solchen Verstoß, dass in einem laufenden Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen die nationalen Regelungen über verbindliche Mindestsätze, also § 7 HOAI, keine Anwendung mehr finden?

Der BGH hatte damit den Ball zurück zum EuGH gespielt. Jedoch hat er auch mitgeteilt, dass nach seiner Auffassung eine unmittelbare Wirkung der Dienstleistungsrichtlinie nicht anzunehmen sei. § 7 HOAI sei in laufenden Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen weiterhin anwendbar. Würde es nach dem BGH gehen, wäre das Preisrecht der HOAI also auch weiterhin für Altverträge anwendbar. Der BGH begründete dies damit, dass eine Richtlinie grundsätzlich nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen könne, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich sei. Eine Richtlinie könne daher grundsätzlich auch nicht in einem Rechtsstreit zwischen Privaten angeführt werden, um die Anwendung der Regelung eines Mitgliedstaats, die gegen die Richtlinie verstößt, auszuschließen.

Der EuGH musste sich also erneut mit der HOAI befassen und über die Auswirkungen seines Urteils auf das deutsche Recht entscheiden.

Generalanwalt beim EuGH Maciej Szpunar vertritt jedoch eine andere Meinung als der BGH. Die nationalen Gerichte seien verpflichtet, das nationale Recht richtlinienkonform auszulegen. Es bestünde eine Pflicht, Bestimmungen des nationalen Rechts anhand des Wortlauts und Zwecks der Richtlinie auszurichten, damit das von der Richtlinie festgelegte Ziel erreicht werde. In seinen Schlussanträgen vom 15.07.2021 hat er dem EuGH vorgeschlagen, die oben aufgezeigten, vom BGH vorgelegten Fragen (vereinfacht dargestellt) dahingehend zu beantworten, dass dann, wenn eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich sei, „ein natio­nales Gericht, das mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen über einen Anspruch befasst ist, der auf eine nationale Regelung gestützt ist, die Mindestsätze für Dienstleistungserbringer in einer Weise festlegt, die gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstößt, diese nationale Regelung unangewendet lassen muss.“

Andernfalls würde das Preisrecht der alten HOAI-Fassung die im EU-Vertrag verankerte und in den Bestimmungen der Dienstleistungsrichtlinie konkretisierte Niederlassungsfreiheit beeinträchtigen und auch gegen das in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte Grundrecht der Vertragsfreiheit werde verstoßen.

Im vorliegenden Fall habe das vorlegende Gericht die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung der nationalen Bestimmung ausgeschlossen. Es sei deswegen zu prüfen, ob für das natio­nale Gericht Gründe bestehen, die der Richtlinie entgegenstehende nationale Bestimmung in dem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen nicht anzuwenden. Der Unionsgesetzgeber habe mit Erlass der Dienstleistungsrichtlinie insbesondere die Niederlassungsfreiheit als Grundfreiheit des Binnenmarkts umsetzen und konkretisieren wollen. Dabei sei es nicht die Aufgabe der Dienstleis­tungsrichtlinie, ausgewählte Aspekte der Dienstleistungstätigkeit zu harmonisieren. Vielmehr ginge es darum, den Vertrag selbst zu konkretisieren. Die Niederlassungsfreiheit werde durch Kapitel III der Dienstleistungsrichtlinie konkretisiert. Daher sei es genauso zulässig, sich in einem Rechtsstreit gegen eine Privatperson auf die Bestimmungen dieses Kapitels zu berufen, wie es zulässig sei, sich in vergleichbaren Situationen unmittelbar auf die Niederlassungsfreiheit des Vertrags zu berufen.

Zudem gälten die Bestimmungen des Kapitels III der Dienstleistungsrichtlinie auch in einer Situation, in der alle relevanten Sachverhaltselemente in nur einem Mitgliedsstaat aufträten. Ein nationales Gericht müsse folglich eine gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstoßende nationale Regelung unangewendet lassen, wenn es mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen über einen Anspruch befasst sei, der auf diese Regelung gestützt ist, und eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich sei.

Der Generalanwalt hat sich darüber hinaus mit der Frage auseinandergesetzt, ob die streitige nationale Bestimmung deshalb nicht anzuwenden sei, weil sie gegen die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Vertragsfreiheit verstoße. Die Vertragsfreiheit sei ein Recht, dass sowohl in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten als auch im Unionsrecht anerkannt sei. Insbesondere verleihe sie Privatpersonen das Recht, den Inhalt des Rechtsverhältnisses durch die Festlegung des Preises für die Dienstleistung zu gestalten. Aus der Vertragsfreiheit folge, dass der Einzelne das Recht auf Freiheit von Eingriffen in die Willensautonomie der Parteien eines Rechtsverhältnisses habe. Das wichtigste Mittel für Eingriffe in die Vertragsfreiheit bestünde in der staatlichen Einschränkung dieser Freiheit. Der Schutz gegen einen solchen Eingriff, in einem Rechtsstreit mit einer Vertragspartei, die ihr Recht aus einer solchen Einschränkung ableite, könne nur durch die Einrede der Rechtswidrigkeit der Freiheitseinschränkung erfolgen.

Ob eine Freiheitseinschränkung rechtmäßig sei richte sich danach, ob sie die Bedingungen erfülle, die alle in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union genannten Einschränkungen der Rechte und Freiheiten erfüllen müssten. Der Generalanwalt ist der Auffassung, die Feststellung des Gerichtshofs bedeute, dass die streitige Bestimmung des nationalen Rechts, die eine Einschränkung des Rechts zur freien Preisbestimmung vorsieht, mit der Bestimmung des Unionsrechts, die Grenzen für den Erlass einer solchen Bestimmung festlege, unvereinbar sei, weshalb entgegenstehende Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet bleiben müssen. Es stünde in einem solchen Fall außer Zweifel, dass die im nationalen Recht vorgesehenen Beschränkungen des Rechts zur freien Bestimmung des Preises nicht den Voraussetzungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union genüge. Das nationale Gericht habe demzufolge die streitige nationale Bestimmung, die gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstoße, mit der Begründung unangewendet zu lassen, dass das Grundrecht der Vertragsfreiheit in Bezug auf das Recht der Parteien, den Preis festzulegen, gewahrt werden müsse.

In der Vergangenheit ist der EuGH in der Regel dem Vorschlag des Generalanwalts gefolgt. Auch im vorliegenden Fall ist dies sehr wahrscheinlich. Konkret würde dies bedeuten, dass das Preisrecht der bisherigen HOAI-Fassung für alle Altverträge nicht mehr angewendet wird. Ob eine solche Entscheidung „richtig“ wäre, sei hier dahingestellt. So oder so muss sich die Rechtspraxis darauf einstellen.

Offen bliebe jedoch die Frage, wie mit Altverträgen umzugehen ist, die formunwirksam sind. Beispielsweise Honorarvereinbarungen, die entweder nicht schriftlich oder nicht bei Auftragserteilung getroffen wurden. Nach überwiegender Auffassung hat eine formunwirksame Honorarvereinbarungen in Altverträgen immer noch zur Folge, dass über § 7 Abs. 5 HOAI 2013 noch der Mindestsatz der HOAI gelte.

Für Architekten- und Ingenieurverträge die ab dem 01.01.2021 geschlossen wurden ist das verbindliche Preisrecht nicht von Bedeutung. Die HOAI 2021 stellt nur noch eine Honorarorientierung dar. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 HAOI 2021 gilt bei sogenannten Neuverträgen jedoch der Basishonorarsatz, wenn keine Honorarvereinbarung in Textform vorliegt.

Die Nutzung der männlichen Form in Fällen der ­All­gemeingültigkeit dient ausschließlich der Lesbarkeit ­juristischer Texte.